Weniger Opiate, mehr Lebensqualität? Was medizinisches Cannabis bewirken kann

Erstellt am:14.08.2025- Zuletzt aktualisiert:14.08.2025

Nach der Gürtelrose hörte der Schmerz nicht auf: stechend wie Messer, brennend wie rohe Haut – jede Nacht, jeden Tag. Autofahren war unmöglich, Radfahren gefährlich, die Treppe eine Hürde. Opiate dämpften kaum, machten aber müde und unsicher. Erst als ihre Schmerztherapie auf medizinisches Cannabis umgestellt wurde, änderte sich etwas Grundlegendes: weniger nächtliche Schmerzspitzen, besserer Schlaf und endlich die Chance, die Opiatdosen zu senken – mit spürbarer Erleichterung im Alltag.

Anneliese Decker sitzt auf einer Couch und redet über Ihre Erfahrungen mit medizinischem Cannabis.

  • Post-Zoster-Neuralgie ist oft hartnäckig; Standardtherapien reichen häufig nicht aus.
  • Cannabinoide zeigen in RCTs moderate Effekte bei neuropathischen Schmerzen, v. a. nach Versagen anderer Optionen.
  • Nebenwirkungen sind meist dosisabhängig; langsame Titration und abendliche Einnahme erhöhen die Verträglichkeit.
  • Medizinisches Cannabis kann helfen, Opiate zu reduzieren; Evidenz hierzu ist überwiegend beobachtungsbasiert.
  • In Deutschland seit 2017: Cannabis auf Rezept bei schwerwiegender Erkrankung und Therapieversagen; G-BA konkretisiert.
  • Aktuelle Beschlüsse reduzieren in vielen Fällen Genehmigungspflichten und können den Zugang erleichtern.
  • Ziel: weniger Schmerz, besserer Schlaf, mehr Teilhabe – im multimodalen Setting ohne Heilungsversprechen.

Annelieses Ausgangslage: Wenn der Schmerz bleibt

Nach einer Gürtelrose entwickelte Anneliese (76) eine Post-Zoster-Neuralgie – eine Form von neuropathischem Schmerz, die auch nach Abheilung des Ausschlags bestehen bleibt. Der Schmerz wechselte zwischen Brennen, Stechen und „offene Haut“-Gefühl, besonders nachts. Alltägliche Tätigkeiten wurden mühsam; Autofahren gab sie auf, Radfahren war unsicher. Trotz Opiaten und weiteren Medikamenten blieb die Belastung hoch.

Standardtherapien: Wirkung begrenzt, Nebenwirkungen spürbar

Zu Beginn erhielt sie leitlinienübliche Medikamente, darunter Opiate. Die Schmerzen besserten sich nicht ausreichend; Müdigkeit und Benommenheit schränkten zusätzlich ein. Bei hoher Dosierung traten Entzugssymptome beim Reduzieren auf – typisch für eine längere Opiattherapie. Diese Erfahrung spiegeln Studien, die die Grenzen opioidzentrischer Langzeittherapie betonen.

Umstellung: Cannabis auf Rezept als nächster Schritt

Im Verlauf entschied das Schmerzteam, medizinisches Cannabis als Extrakt zu verordnen – mit nächtlicher Einnahme zur Schlaf- und Schmerzberuhigung. Anneliese spürte eine Reduktion der nächtlichen Schmerzspitzen und konnte Opiate schrittweise deutlich reduzieren, was insgesamt die Tagesleistung verbesserte. Beobachtungsdaten deuten darauf hin, dass mit medizinischem Cannabis in chronischen Schmerzkollektiven Opioiddosen bei einem Teil der Patient:innen sinken können – kausal aber nicht gesichert.

Was Betroffene oft zuerst merken: Schlaf und Alltagsfunktion

Anneliese berichtet von längeren Schlafphasen und weniger nächtlichen Schmerzwellen. In klinischen Studien zu neuropathischen Schmerzen fanden sich – neben Schmerzreduktion – auch Hinweise auf bessere Schlafqualität, insbesondere bei inhalativen oder extraktbasierten Cannabinoiden, wenn Standardtherapien unzureichend waren. Die Effekte sind meist moderat, aber alltagsrelevant.

Wissenschaftlicher Kontext: Evidenz bei neuropathischen Schmerzen

  • Randomisierte Studien zeigen bei verschiedenen neuropathischen Syndromen (z. B. HIV-assoziierte Neuropathie, diabetische Neuropathie, posttraumatische Neuropathie) signifikante Schmerzreduktionen gegenüber Placebo, teils dosisabhängig.
  • Empfehlungsstärke ist dennoch moderat, da große, langfristige RCTs fehlen; Sicherheit und Dosisfindung erfordern ärztliche Begleitung.
  • Für den direkten Vergleich zu Opioiden zeigen Reviews uneinheitliche Vorteile; funktionelle Verbesserungen sind oft ähnlich, Nebenwirkungen unterscheiden sich.

Sicherheit im Alltag: Fahren, Sturzrisiko, Tagesmüdigkeit

Bei Müdigkeit oder Benommenheit sollte nicht aktiv am Straßenverkehr teilgenommen werden; in Deutschland gelten rechtliche Grenzen und Sorgfaltspflichten, auch wenn Freigaben diskutiert werden. Ärztliche Beratung zu Einnahmezeitpunkten (z. B. abends) und langsamer Titration hilft, Alltagsrisiken zu reduzieren.

Dosis und Titration: „Start low, go slow“

  • Einschleichen mit niedriger Dosis, bevorzugt abends; langsame Steigerung bis zur wirksamen, verträglichen Menge.
  • Einnahmeformen: standardisierte Extrakte, Kapseln oder Cannabisblüte zur Inhalation; Extrakte sind planbarer, inhalative Formen wirken schneller, kürzer.
  • Ziel ist eine klinisch relevante Schmerz- und Schlafverbesserung, nicht zwingend Schmerzfreiheit.

Rolle von Medizinischem Cannabis im Therapiekonzept

Cannabis ersetzt nicht Bewegung, physio- oder schmerzpsychologische Maßnahmen; es ergänzt sie. Bei Anneliese erlaubte die nächtliche Stabilisierung tagsüber mehr Aktivität: Spazieren, Radfahren, Treppen mit Pausen. Diese multimodale Ausrichtung entspricht modernen Schmerzkonzepten, die Funktion und Teilhabe betonen.

Opiatreduktion: Chancen und Grenzen

Anneliese konnte ihre Opiate „weit über die Hälfte“ reduzieren – ein realistisches Ziel für manche Betroffene. Systematische Reviews zeigen Hinweise auf „opioid-sparing“-Effekte, die Evidenz ist jedoch überwiegend beobachtungsbasiert und von niedriger bis sehr niedriger Sicherheit; Kausalität bleibt offen. Ärztlich geführtes Ausschleichen hilft, Entzugssymptome zu vermeiden und Rückschritte abzufangen.

Rechtlicher Rahmen in Deutschland: Cannabis auf Rezept

  • Seit 2017 kann medizinisches Cannabis bei schwerwiegenden Erkrankungen verordnet werden, wenn Standardtherapien nicht ausreichen; die G-BA-Regelungen präzisieren Indikationen, Verordnungswege und Begleitforschung.
  • Aktuelle Beschlüsse sehen vor, dass für viele Fachgruppen die Genehmigungspflicht der Krankenkassen entfällt, was die Versorgung beschleunigen kann; die Grundvoraussetzungen bleiben bestehen.

Annelieses heutiger Alltag: Mehr Selbstbestimmung

Mit nächtlichem Cannabis-Extrakt schläft Anneliese ruhiger und hat am Tag mehr Stabilität. Sie bewegt sich täglich, geht spazieren, radelt in kurzen Strecken, steigt Treppen mit Pausen. Opiate nimmt sie, wenn nötig, gezielt und seltener – in Rücksprache mit dem Behandlungsteam. Für sie ist das kein Wundermittel, aber eine tragende Säule im Gesamtkonzept.

Quellen: 

  1. CDC Guideline for Prescribing Opioids for Pain — United States, 2022. MMWR Recomm Rep. 2022.
  2. American Society of Pain and Neuroscience. Medical Cannabis: A Review. J Pain Res. 2023: Level-I-Evidenz/RCTs zu neuropathischen Schmerzen.
  3. Cleveland Clinic Journal of Medicine. Cannabis for peripheral neuropathy: Review of trials and safety. 2018.
  4. BMJ Open. Cannabis for medical use versus opioids for chronic non-cancer pain: Systematic review & NMA. 2024.
  5. BMJ Open. Opioid-sparing effects of medical cannabis: Systematic review. 2021.
  6. Pain Med/Neuropsychopharmacology. Opioid-sparing effect of cannabinoids: Systematic review. 2022.
  7. G-BA/Associations communication: Decision easing approval requirements for many specialties (2024).
  8. G-BA FAQ: Verordnung von medizinischem Cannabis (Rahmen seit 2017).
  9. JAMA Netw Open. Changes in Prescribed Opioid Dosages Among Patients Receiving Medical Cannabis. 2023 (Kohorte).

Schritt für Schritt zur Cannabistherapie

Wir begleiten Sie dabei, die Therapie mit Medizinalcannabis so einfach wie möglich zu beginnen, damit Ihre Schmerzen schnell gelindert werden. Gehen Sie dazu wie folgt vor:

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Häufig gestellte Fragen

Bei ordnungsgemäßer medizinischer Anwendung ist der Führerscheinentzug unwahrscheinlich. Wichtig sind eine ärztliche Dokumentation und der Nachweis der medizinischen Notwendigkeit.

Medizinisches Cannabis hat ein deutlich geringeres Abhängigkeitspotential als Opioide.12 Bei medizinischer Anwendung unter ärztlicher Aufsicht ist das Abhängigkeitsrisiko von Medizinalcannabis gering, da die Dosis und die Verschreibungsmenge sorgfältig von dem/der behandelnden Ärzt:in überwacht werden.

12 Suchthilfe in Deutschland 2023 – Jahresbericht der deutschen Suchthilfestatistik; https://www.suchthilfestatistik.de/fileadmin/user_upload_dshs/05_publikationen/jahresberichte/DSHS_DJ2023_Jahresbericht.pdf (zuletzt aufgerufen am 15.07.2025)

Die Krankenkasse kann die Kosten übernehmen, wenn andere konventionelle Therapien nicht ausreichend geholfen haben und eine begründete Aussicht auf Besserung der Symptome durch Medizinalcannabis besteht.

Für durchgehende Schmerzen ist die orale Anwendung in Form von Ölen oder Kapseln gut geeignet, da sie eine lange Wirkdauer haben. Für Durchbruchschmerzen eignet sich Inhalation, da die Wirkung bereits nach einigen Minuten eintritt.6 Ihr Arzt/Ihre Ärztin berät Sie individuell zur optimalen Darreichungsform.

6 Grotenhermen F. Pharmacokinetics and pharmacodynamics of cannabinoids. Clin Pharmacokinet. 2003;42(4):327-360. doi:10.2165/00003088-200342040-00003

Die häufigsten Nebenwirkungen sind u. a. anfängliche Müdigkeit, Schwindel oder trockener Mund.11 Die meisten Nebenwirkungen treten zu Beginn der Therapie auf und lassen mit der Zeit nach. Durch eine ärztliche Begleitung und individuelle Dosierung können die Nebenwirkungen minimiert werden. Bei Unsicherheiten sprechen Sie bitte mit Ihrem Arzt/Ihrer Ärztin.

11. Bar-Lev Schleider L, Mechoulam R, Sikorin I, Naftali T, Novack V. Adherence, Safety, and Effectiveness of Medical Cannabis and Epidemiological Characteristics of the Patient Population: A Prospective Study. Front Med (Lausanne). 2022 Feb 9;9:827849. doi: 10.3389/fmed.2022.827849.

Ihr Arzt kann verschiedene Cannabis-Sorten, Dosierungen oder Darreichungsformen testen. Manchmal dauert es mehrere Wochen, bis die optimale Einstellung gefunden ist.

Es gibt verschiedene Sorten sowie Darreichungsformen von Medizinalcannabis. Ihr Arzt/ihre Ärztin erstellt einen individuellen Therapieplan für Sie. Auch die Dosierung wird im Therapieverlauf auf sie eingestellt. Daher kann es mehrere Wochen dauern, bis die optimale Einstellung mit der gewünschten Wirkung erreicht ist.

Medizinisches Cannabis wirkt schmerzlindernd über das körpereigene Endocannabinoidsystem (ECS). Das ECS reguliert die physiologischen Prozesse im Körper und spielt eine Schlüsselrolle bei der Schmerzregulation, Neurogenese und der Immunantwort. Die aktiven Bestandteile von Cannabis wie Tetrahydrocannabiol (THC) und Cannabidiol (CBD), binden an die Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2 im Körper.9,10 Diese Bindung kann die Schmerzwahrnehmung verändern und so schmerzlindernd wirken.

9 Castorena CM, Caron A, Michael NJ, Ahmed NI, Arnold AG, Lee J, Lee C, Limboy C, Tinajero AS, Granier M, Wang S, Horton JD, Holland WL, Lee S, Liu C, Fujikawa T, Elmquist JK. CB1Rs in VMH neurons regulate glucose homeostasis but not body weight. Am J Physiol Endocrinol Metab. 2021 Jul 1;321(1):E146-E155. doi: 10.1152/ajpendo.00044.2021.

10 Di Marzo V, Piscitelli F. The Endocannabinoid System and its Modulation by Phytocannabinoids. Neurotherapeutics. 2015 Oct;12(4):692-8. doi: 10.1007/s13311-015-0374-6.

Medizinisches Cannabis wirkt schmerzlindernd über das körpereigene Endocannabinoidsystem (ECS). Das ECS reguliert die physiologischen Prozesse im Körper und spielt eine Schlüsselrolle bei der Schmerzregulation, Neurogenese und der Immunantwort. Die aktiven Bestandteile von Cannabis wie Tetrahydrocannabiol (THC) und Cannabidiol (CBD), binden an die Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2 im Körper.9,10 Diese Bindung kann die Schmerzwahrnehmung verändern und so schmerzlindernd wirken.

9 Castorena CM, Caron A, Michael NJ, Ahmed NI, Arnold AG, Lee J, Lee C, Limboy C, Tinajero AS, Granier M, Wang S, Horton JD, Holland WL, Lee S, Liu C, Fujikawa T, Elmquist JK. CB1Rs in VMH neurons regulate glucose homeostasis but not body weight. Am J Physiol Endocrinol Metab. 2021 Jul 1;321(1):E146-E155. doi: 10.1152/ajpendo.00044.2021.

10 Di Marzo V, Piscitelli F. The Endocannabinoid System and its Modulation by Phytocannabinoids. Neurotherapeutics. 2015 Oct;12(4):692-8. doi: 10.1007/s13311-015-0374-6.

Schmerzmediziner:innen, Neurolog:innen und spezialisierte Ärzt:innen, die bereits viel Erfahrung mit der Therapie gesammelt haben, verschreiben häufig medizinisches Cannabis. Wichtig sind umfassende Unterlagen über bisherige erfolglose Standardtherapien, um die medizinische Notwendigkeit zu belegen.

Bei Inhalation tritt die Wirkung binnen weniger Minuten ein, bei Ölen und Kapseln nach etwa ein bis zwei Stunden.6 Daher ist bei akuten Schmerzen die Inhalation am besten geeignet.

6 Grotenhermen F. Pharmacokinetics and pharmacodynamics of cannabinoids. Clin Pharmacokinet. 2003;42(4):327-360. doi:10.2165/00003088-200342040-00003

Für neuropathische Schmerzen gibt es bereits gute wissenschaftliche Belege.1,2 Auch bei anderen chronischen Schmerzarten berichten Patient:innen von einer Reduktion der Schmerzintensität und einer Verbesserung der Lebensqualität.3,4,5.

1 Ueberall MA, Essner U, Mueller-Schwefe GH. Effectiveness and tolerability of THC:CBD oromucosal spray as add-on measure in patients with severe chronic pain: analysis of 12-week open-label real-world data provided by the German Pain e-Registry. J Pain Res. 2019;12:1577-1604. Published 2019 May 20. doi:10.2147/JPR.S192174

2 Ueberall MA, Vila Silván C, Essner U, Mueller-Schwefe GHH. Effectiveness, Safety, and Tolerability of Nabiximols Oromucosal Spray vs Typical Oral Long-Acting Opioid Analgesics in Patients with Severe Neuropathic Back Pain: Analysis of 6-Month Real-World Data from the German Pain e-Registry. Pain Med. 2022 Apr 8;23(4):745-760.

3 Aviram J, Lewitus GM, Vysotski Y, et al. Prolonged Medical Cannabis Treatment is Associated With Quality of Life Improvement andReduction of Analgesic Medication Consumption in Chronic Pain Patients. Front Pharmacol. 2021;12:613805. Published 2021 May 19.

4 Safakish R, Ko G, Salimpour V, et al. Medical Cannabis for the Management of Pain and Quality of Life in Chronic Pain Patients: AProspective Observational Study. Pain Med. 2020;21(11):3073-3086.

5 Wang L, Hong PJ, May C, et al. Medical cannabis or cannabinoids for chronic non-cancer and cancer related pain: a systematic review and meta-analysis of randomised clinical trials. BMJ. 2021;374:n1034. Published 2021 Sep 8.